1992
Demokratische Psychiatrie, psychoanalytische Psychotherapie der Schizophrenie und Säuglingspsychiatrie – über die Notwendigkeit eines fruchtbaren Austauschs
von Norman Elrod
Als Vortrag gehalten am 17.12.1992 in Livorno an einer Jubiläumstagung zum 20jährigen Bestehen der Fogli di Informazione.
Aus Auf der Suche nach dem gemeinsamen Grund. Psychoanalyse und Demokratische Psychiatrie im Austausch (1993), herausgegeben von Hans Red, Band III, S. 539–555.
Ins Sichere willst du dich betten!
Ich liebe mir inneren Streit:
Denn wenn wir die Zweifel nicht hätten,
Wo wäre denn frohe Gewissheit?
Goethe, Zahme Xenien, I
I.
In der nächsten halben Stunde werde ich versuchen, eine Beziehung zwischen zwei Gebieten der Psychiatrie herzustellen, die auf den ersten Blick anscheinend nichts miteinander zu tun haben, zwischen der Demokratischen Psychiatrie und der Säuglingspsychiatrie. Dabei komme ich auch auf die psychoanalytische Psychotherapie der Schizophrenie zu sprechen, in der die Säuglingspsychiatrie, so wie wir sie heute verstehen, meiner Meinung nach eine ihrer Wurzeln hat; in dieser Hinsicht scheint es mir nicht verwunderlich, dass zwei Kollegen, die wir heute durch ihr Interesse für die gegenwärtige Säuglingspsychiatrie kennen, in den 50er Jahren an der Psychotherapie der Schizophrenie beteiligt waren, Serge Lebovici (1960) in Frankreich und Joseph Lichtenberg (1991) in den USA.
Als sich in den 60er Jahren die Demokratische Psychiatrie zu einer eigenen Form des Umgangs mit psychisch gestörten Menschen entwickelte, existierte die Säuglingspsychiatrie als solche noch gar nicht. Dieses Gebiet der Psychiatrie nahm erst in den 70er Jahren Gestalt an, und der Erste Weltkongress für Säuglingspsychiatrie und ihre Hilfsverfahren fand 1981 in Estoril statt. Soviel ich weiss, trugen die Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie nichts zur Entstehung der Säuglingspsychiatrie bei. Sollten sie es dennoch getan haben, würde es mich freuen, dies zu hören.
Die Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie arbeiteten nicht auf Säuglingsstationen mit gestörten Kleinkindern und ihren besorgten Eltern; auch beobachteten sie nicht Babies oder Mütter und ihre Kinder im Interesse dieser oder jener Forschung. Die Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie hatten es in veralteten psychiatrischen Kliniken vorwiegend mit Erwachsenen zu tun, die von den Behörden und dem Grossteil der Bevölkerung als geisteskrank und vor allem der Verwahrung bedürftig angesehen wurden. Das wissenschaftliche Interesse, das Verhalten dieser Menschen zu beobachten, war, falls überhaupt vorhanden, gering – ich kann mir z.B. keine einem heutigen Babybeobachter vergleichbare Person in Anton Tschechows (1892) «Krankenzimmer Nr. 6» vorstellen, in jener Erzählung von desolaten Zuständen in einem Asyl im osteuropäischen Raum, die vielleicht eine russische Überspitzung der Situation darstellt, die in Italien in den 60er Jahren existierte. Kurz: Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem «Irrsinn» innerhalb und ausserhalb der Anstalt gab es damals praktisch nicht, als die Vorkämpfer der Psychiatrie, die später Demokratische Psychiatrie genannt wurde, ihre Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen aufnahmen.
Die Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie befassten sich mit der medizinischen Soziologie und der Psychologie grosser Gruppen und mit der Politik der Ausschliessung von Psychischkranken. Ihr vorrangiges Interesse galt nicht dem sorgfältigen Studium der Auswirkungen eines langen Anstaltsaufenthalts auf einzelne Patienten, sie wollten mit den Umständen aufräumen, die sie an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen vorfanden. Handeln stand auf der Tagesordnung, die Reflexion konnte warten. Es ging nicht darum, die Welt des Ausschlusses von Psychiatriepatienten neu zu interpretieren, sondern sie zu verändern.
Ja, die Anspielung auf Karl Marx (1844–1847) ist beabsichtigt, denn soviel ich weiss, verstanden sich die meisten Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie entweder als Vertreter der «Neuen Linken», oder sie waren in der «Alten Linken» organisiert. Ich hatte nie den Eindruck, dass sie der sowjetischen Psychiatrie anhingen – offensichtlich diente ihnen die in den realsozialistischen Staaten praktizierte Psychiatrie nicht als Modell. Die ersten Vertreter der Demokratischen Psychiatrie betonten die Notwendigkeit, die psychiatrischen Anstalten, die die Patienten isolierten und psychisches Elend förderten, zu beseitigen. Sie negierten die Institution und meinten, das Anliegen von Marx am besten von einer Art post-permanenter Revolution her zu erfassen.
Die Demokratische Psychiatrie entwickelte sich nicht nur als eine Form der antiinstitutionellen Ideologie, sondern sie negierte auch viele der seit Mitte des letzten Jahrhunderts von der westeuropäischen Psychiatrie erbrachten Leistungen. Inwiefern das auch die italienische Psychiatrie ab 1850 betrifft, weiss ich nicht. Fest steht aber, dass in vielen Schriften der Demokratischen Psychiatrie Personen wie Wilhelm Griesinger, August Forel, Eugen Bleuler, Emil Kraepelin, Karl Jaspers, Ernst Kretschmer, Kurt Schneider und Manfred Bleuler nicht für relevant genug gehalten wurden, um sie eingehend zu studieren. Andererseits lieferten Philippe Pinel und John Conolly für Agostino Pirella (1976; und Domenico Casagrande, 1973) Modelle der Behandlung Geisteskranker, und Ludwig Binswangers Versuche, den einzelnen Patienten zu verstehen, stiessen auf spezielles Interesse bei Franco Basaglia. Basaglia scheint insofern eine Ausnahme gewesen zu sein, als seine frühen Publikationen zeigen, dass er sich in der Psychiatrie deutschsprachiger Länder im 20. Jahrhundert sehr gut auskannte. Kein Wunder, dass er auf der Teilnehmerliste eines während des Zweiten Internationalen Kongresses für Psychiatrie in Zürich im September 1957 abgehaltenen Symposiums aufgeführt wird, an dem es um das paranoide Syndrom aus anthropologischer Sicht ging. (Christian Müller, 1958; siehe dazu Franco Basaglia, 1953; 1954a; 1954b; 1955; 1956a, 1956b; 1957a; 1957b; 1964; 1965; 1966a; 1966b; 1966c; 1967; 1968).
Die führenden Vertreter der Demokratischen Psychiatrie verfochten in den ersten Jahren bei ihrem Versuch, den geächteten Psychiatriepatienten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht nur antipsychiatrische und antiinstitutionelle Massnahmen, sie hegten auch einen Groll gegen die Psychoanalyse Freuds. Viele von ihnen hielten anscheinend die Psychoanalyse für eine Psychologie der herrschenden Elite des Establishment. Hatten doch Psychoanalytiker in Italien mehr als einmal gezeigt, dass sie notfalls bereit waren, mit den Behörden gemeinsame Sache zu machen, wenn es gegen die Rechte der Patienten zugunsten der Vorschriften des Staates oder der Interessen der Ärzteschaft ging. Die Analytische Psychologie C. G. Jungs schien kaum zu zählen, obwohl Jung viel intensiver als Freud mit schwer Geistesgestörten gearbeitet hatte.
Aus der Ferne gesehen lag die Bewegung der Demokratischen Psychiatrie im Konflikt mit den Ansichten akademischer und klinischer Psychiater über psychische Krankheit und psychische Gesundheit. Sie widersprach auch vielen psychiatrischen Behandlungsmethoden. Darüber hinaus konnte sie weder mit der Persönlichkeitstheorie noch der Theorie der Behandlung etwas anfangen, die die Vertreter der Tiefenpsychologie, speziell der Psychoanalyse, anboten.
II.
Nicht dass die in der Demokratischen Psychiatrie Tätigen keine Vorstellungen von der Möglichkeit menschlicher Entwicklung hatten! Sie konnten sehr wohl vorher stigmatisierte, geächtete und als «unheilbare Geistekranke» abgestempelte Personen als erwachsene Menschen in das Leben ihrer Gemeinde zurückkehren sehen. Allerdings fand ihrer Meinung nach bei der Entwicklung von der geschlossenen Klinik zur offenen Betreuung keine Metamorphose des Individuums statt; entscheidend war die kollektive Bewegung weg von der Existenz der psychiatrischen Anstalt, wobei sie hofften, dass mit der Zerstörung der repressiven psychiatrischen Anstalt und der Aufhebung aller dieser Institution förderlichen Massnahmen, Sozialarbeiter im weiteren Sinne eine Chance erhalten würden, den Opfern von Etikettierung, Stigmatisierung, Ausschluss usw. zu einem Platz an der Sonne zu verhelfen.
Solange sich die Demokratische Psychiatrie bis etwa 1980 in erster Linie um soziale, psychiatrische und politische Angelegenheiten kümmerte, für menschlichere Behandlungsstrukturen und neue Gesetze auf nationaler Ebene kämpfte, solange konnte sie, erfreut über die Beachtung, die sie in verschiedenen Gremien fand und dankbar für die Anerkennung durch die Politiker in Rom, es sich leisten, darüber hinwegzusehen, was sie in ihrem «Grossen Sprung» geopfert hatte.
In den 80er Jahren wehte ein neuer Wind. Hatten die Pioniere der Demokratischen Psychiatrie ohne es zu merken auf einem Vulkan getanzt und nicht realisiert, dass die Vergangenheit sie vielleicht einholen würde? Hatten sie womöglich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet?
Es wurde immer offensichtlicher, dass Handeln ohne solide Theorie, wohlwollender Umgang ohne die Beherrschung von Behandlungstechniken, Arbeit in der Psychiatrie ohne entsprechende Aus- und Weiterbildung, ja, dass Reden über die Demokratische Psychiatrie ohne fundiertes Wissen über die Geschichte des Konzepts der Demokratie und über die Bemühungen von Menschen in der Vergangenheit, demokratische Einrichtungen zu etablieren, dass dies alles mit der Zeit die Bewegung insgesamt behinderte.
Die Demokratische Psychiatrie wurde aus der einfachen Negation des Gegebenen geboren, aber um überleben zu können, musste sie auch fähig werden, ihre erste und entscheidende Negation zu negieren. Das Niederreissen der Mauern, die psychisch kranke in der Isolation gehalten hatten, war das eine, zu verstehen, warum Menschen hinter psychischen Mauern weiterlebten, nachdem die äusseren Mauern der Anstalt gefallen waren, war das andere. Um dieser Frage nachgehen zu können, brauchte es Psychologie, Tiefenpsychologie, z.B. die in Bologna praktizierte Psychoanalyse Pier Francesco Gallis und seiner Mitstreiter in Zusammenarbeit mit Berthold Rothschild (1992) aus Zürich, oder die Konkrete Psychologie von Paolo Tranchina in Florenz!
III.
Viele könnten jetzt hier den Schluss ziehen, ich wolle die Psychoanalyse verkaufen. Die Demokratische Psychiatrie sollte eine Kehrtwendung vollziehen und eingestehen, dass sie in der Vergangenheit Fehler gemacht habe. Nein, es geht nicht darum, Irrtümer zu korrigieren, sondern sich vielmehr angesichts neuer Probleme näher anzuschauen, was andere Personen bereits auf dem Gebiet der Psychiatrie getan haben im Bestreben, dem Patienten zu dienen und ihn zu verstehen. Für mich ist dabei die relevanteste Arbeit mit einzelnen psychisch gestörten Personen innerhalb oder ausserhalb der psychiatrischen Klinik allerdings auf psychoanalytischer Basis geleistet worden, wenn ich auch von Behandlungen weiss, die unter der Leitung von Domenico Casagrande in Venedig auf nicht psychoanalytischer Grundlage durchgeführt wurden und deren Ansatz dennoch völlig überzeugte.
An welche Art von Psychoanalyse und welche Tradition innerhalb der Psychoanalyse denke ich nun, wenn ich sage, dass ich es nötig finde, die Psychoanalyse in das Denken und die Behandlungsmethoden der Mitarbeiter der Demokratischen Psychiatrie einzubeziehen? Sicher gehört dazu Paul Federn, ein Psychoanalytiker, der erstmals 1905 psychotische Patienten behandelte (siehe Norman Elrod, 1990). Wenn ich Federn lese, kommt es mir vor, als sei er ein Zeitgenosse und aktives Mitglied der Demokratischen Psychiatrie (siehe dazu Elrod, 1987). Er betonte wiederholt, die psychotischen Patienten seien zwar behindert, aber nicht prinzipiell unfähig und auch nicht abgeneigt, mit einem Mitmenschen Kontakt aufzunehmen und zu pflegen, der ihnen aufrichtig, freundlich und verständnisvoll entgegentritt. Auch chronisch schizophrene Patientinnen und Patienten zeigen sich fähig und willig, sich «in vernünftiger Weise» (Paul Federn, 1943, S. 147) mit ihren Problemen zu befassen. Eine der Voraussetzungen dafür ist, schrieb Federn, dass die Person, die helfen will, die Welt, in der die psychisch kranke Person lebt, annimmt; indem die als nicht-krank geltende Person diese Welt kennenlernt, kann sie erfahren, was die oft verzerrte Ausdrucksweise bedeutet und wie «wohl-motiviert» die Handlungen und Reaktionen des Kranken sind (S. 147).
Federn machte sich Gedanken über die Genese der Gemüts- und Geisteskrankheiten, über die möglichen Ursachen dieser Störungen. Was führt dazu, gemüts- und/oder geisteskrank zu werden, fragte er sich? Eine seiner Antworten lautete, so entnehme ich seinen Texten, die entscheidenden Ursachen der psychotischen Erkrankung sind organischer Art, und die Psychosen können nur auf somatischem Weg geheilt werden, «freilich bei gleichzeitiger psychischer Behandlung» (Heinrich Meng, 1956, S. 342).
Eine andere Antwort Federns auf die Frage nach der Ursache des psychischen Leidens, das wir Schizophrenie nennen, entsprang hingegen der Feststellung, die Geisteskranken benehmen sich oft so, als hätten sie nie ausreichend in einer Dyade oder in Beziehungen gelebt, in denen sie die Hingabebereitschaft ihres Gegenübers erfahren konnten. Sie bekamen zwar Milch, aber keinen Honig. Die Person oder Personen, die sie als Mutter kennenlernten, taten in der Regel das, was die Gesellschaft von ihnen erwartete, aber es fehlte ihnen das gewisse Etwas, das Federns Mitarbeiterin Gertrud Schwing die «Mütterlichkeit» nannte. Wie Schwing schrieb: «Alle unsere Kranken haben die ‹mütterliche Mutter› entbehrt» (Gertrud Schwing, 1940, S. 33).
In der Zeit, in der Schwing dies mitteilte – in den 30er Jahren –, machte eine andere Psychoanalytikerin in Genf sehr ähnliche Erfahrungen mit einer schizophrenen Patientin. Ich meine Mme. Séchehaye und ihre Patientin Renée und denke an die psychotherapeutische Methode, die Séchehaye entwickelte, um ihre Mütterlichkeit im Umgang mit Renée in adäquater Form einzubringen, die symbolische Verwirklichung (Marguerite Séchehaye, 1947).
Noch eine Frau suchte damals einen psychoanalytischen Zugang zum als schizophren diagnostizierten Kranken. Frieda Fromm-Reichmann in Chestnut Lodge, USA, nahm wie Federn und Schwing an, dass schwere Störungen in der Zweierbeziehung des kleinen Kindes mit der Mutter nachhaltig ungünstige Auswirkungen auf die Entwicklung hatten. So verstand sie ihre in sich zurückgezogene Patientin, die anscheinend nichts an sich herankommen liess, als eine Person, die zwar durch die radikale Vermeidung eines offenen Austausches mit ihren Mitmenschen unzählige Chancen, sich zu entwikkeln, verpasste, aber dadurch die Gefahr vermied, «wieder einmal abgelehnt» zu werden, so wie sie dies oft in der frühen Kindheit erfahren hatte (Frieda Fromm-Reichmann, 1950, S. xii). «Wohl-motiviert» war also dieses Verhalten, das «eine schwere zwischenmenschliche Schwierigkeit» offenbarte und nicht durch irgendein Programm in den Genen der Patientin erklärt werden musste. Die Patientin wollte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln noch Schlimmeres im zwischenmenschlichen Bereich verhindern, z.B. Wutausbrüche gegen als bedrohlich erlebte Personen.
In der Fachliteratur finden wir die Annahme, dass Fromm-Reichmann ihre schizophrenen Patientinnen und Patienten als Produkte einer «schizophrenogenen Mutter» ansah. Das stimmt, wenn wir die Arbeit dieser Frau undifferenziert vermitteln. Sie schrieb z.B. tatsächlich im Jahre 1948 von der «schizophrenogenen Mutter» (Fromm-Reichmann, 1948, S. 193). Auch erfahre ich aus einem Werk über Fromm-Reichmann (Ann-Louise S. Silver, 1989), dass sie sich Mitte der 40er Jahre Gedanken über mögliche krankmachende Einflüsse der Mutter auf das kleine Kind machte.
Soweit ich sehe, hatte allerdings Fromm-Reichmann keinesfalls ein dogmatisch festgelegtes Bild von den Müttern, deren Kinder später als schizophren diagnostiziert werden. Ihre Ansicht entsprach zum Teil der von Schwing, und in diesem Geist schrieb Fromm-Reichmann (1940):
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die psychologische und soziale Rolle der Mutter in der Familie nicht fixiert, sondern je nach der historischen Periode, dem Lande und dem Kulturkreis verschieden ist. Wir wissen noch nicht, wie weit die Haltung der Mutter biologisch bestimmt ist und wie weit sie dem Einfluss der Kultur unterliegt. Unsere Vorschläge für eine ideale und wünschenswerte mütterliche Haltung sind daher ihrerseits auch nicht spezifisch für die Haltung der Mutter an sich. Sie sind vielmehr Vorschläge für ein mütterliches Prinzip. Dieses Prinzip sollte jede Art elterlichen Dominierens ersetzen und den Kindern jene Sicherheit und Liebe geben, die die grundlegende psychische Voraussetzung für ihr normales Wachstum und ihre spätere Entwicklung zur Freiheit und Unabhängigkeit ist. Das sollte die ideale elterliche Einstellung sein, ob nun der Vater oder die Mutter in den betreffenden Kulturen mehr gilt (S. 353).
IV.
Über 40 Jahre sind vergangen, seit Fromm-Reichmann von der schizophrenogenen Mutter sprach und schrieb. Vielen ihrer Schlussfolgerungen scheint eine genügende empirische Evidenz zu fehlen. Ich vermute, die meisten von uns hier denken, dass sie sich ihre Aufgabe zu leicht machte und dass ihr Konzept der Schizophrenie eine glatte Vereinfachung der menschlichen Situation ist, in der sie sich zusammen mit ihrer Patientin befand (siehe dazu Manfred Cierpka, 1987; Carl Ratner, 1991).
Aber war Fromm-Reichmanns Grundhaltung so verschieden beispielsweise von derjenigen Serras, Slavichs oder Marzis? Ich meine, nein. Alle diese Personen suchten oder suchen Modelle für Denk- und Handlungsstrategien, mit denen sie den Problemen begegnen können, die bei der Arbeit mit schwer gestörten Psychiatriepatienten auftauchen. Wenn viele von uns hier glauben, Fromm-Reichmann tappte im Dunkeln mit ihren Überlegungen über die schizophrenogene Mutter, so denken andererseits viele Fachleute in und ausserhalb von Italien, die Demokratische Psychiatrie habe auf Sand gebaut mit ihren Annahmen über die Natur und die Behandlung psychischer Krankheit, ja, sie sei sogar eine Gefahr für die Gesundheit des Volkes (siehe dazu Roland Kuhn, 1979). Vielleicht sind beide Gruppen, diejenige, die wie Fromm-Reichmann der psychoanalytischen Psychotherapie der Schizophrenie verpflichtet ist, und die andere, die die grosse Mehrheit der Mitglieder der Demokratischen Psychiatrie in Italien umfasst, gleichermassen Opfer von Illusionen und zu grosser Vereinfachung beim Bemühen, kaum verständliche Phänomene zu erklären.
V.
Und hier tritt, denke ich, die Säuglingspsychiatrie auf den Plan. Ich meine natürlich die Säuglingspsychiatrie, die entscheidend von der Psychoanalyse beeinflusst wird. Wie einige hier vielleicht wissen, ist die von Psychoanalytikern praktizierte Säuglingspsychiatrie ein recht anspruchsvolles Unternehmen. Zum Beispiel sind zwei dieser Psychoanalytiker, Daniel Stern und Robert Emde, sowohl in Psychoanalyse als auch in Entwicklungspsychologie und Psycholinguistik gut ausgebildet. Lew Wygotski, der sowjetische Psychologe, der einige Jahre der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung angehörte, ist für sie kein Unbekannter. Ferner sind sie nicht nur mit den meisten modernen Methoden der Säuglingsbeobachtung vertraut, sondern auch mit den Repräsentanzen und Vorstellungen, die sich vom Baby in den Köpfen von Mutter, Vater, Bruder und Schwester bilden, ganz zu schweigen von den Bildern von Säuglingen, wie sie Sigmund und Anna Freud, Melanie Klein, Donald W. Winnicott und Margaret Mahler für ihre Mitarbeiter und Leser darstellten. Die Forschung hat ergeben, dass der wirkliche Säugling nicht mit dem Säugling verwechselt werden darf, den z.B. Sigmund Freud beschrieb.
Und wie sieht der wirkliche Säugling aus? Nun, zunächst ist es der Säugling der Videokameras, der Tonbandgeräte und anderer technischer Apparate. Dieser Säugling scheint eine andere Art Kind zu sein, als das, welches uns durch die alten psychoanalytischen Überlegungen über das Kleinkind vertraut ist. Ich auf alle Fälle finde in den jüngsten Forschungsberichten keinen Anhaltspunkt für die Existenz einer «undifferenzierten Matrix» bei diesem Kleinkind; und von der Libido als Stosskraft für das gesamte Wachstum, als Motor für die Entwicklung in den entscheidenden Phasen der Kindheit und Adoleszenz, höre ich auch nichts. Kurzum: Autismus, primärer Narzissmus und halluzinatorisches Erleben im Säuglingsalter sind meines Wissens in den psychoanalytischen Kreisen, die sich mit der Säuglingspsychiatrie beschäftigen, keine gültigen Begriffe mehr.
Wir haben in der Psychoanalyse eingesehen, dass Phantasie, Einfühlung und Introspektion im Dienste konstruktiven und rekonstruierenden Theoretisierens nicht ausreichen, um Kinder im vorsprachlichen Alter adäquat zu verstehen. Neue Beobachtungstechniken sind im Zusammenhang mit der Verhaltensforschung entwickelt worden, die, wie T. Berry Brazelton und Bertrand G. Cramer (1990) schreiben, z.B. Verhaltensweisen registrieren, die «mit dem blossen Auge nicht wahrnehmbar» sind, so manche Bild-für-Bild-Analysen eines Videofilms. Weiter helfen heute Geräusch-Spektrographen das Heben und Senken der Stimme darzustellen (S. 119). In Kürze:
Da Säuglinge ihren inneren Zustand weder mit Worten noch durch symbolisches Spiel mitteilen können, muss ihr beobachtbares Verhalten als Ausdruck ihres subjektiven Erlebens untersucht werden. Die Beobachtung des Verhaltens eines Babys ist deshalb für die Beurteilung von entscheidender Wichtigkeit … Videoaufzeichnungen sind hierbei ein unersetzliches Werkzeug, dessen Nutzen durch die analytische Auswertung kürzester Bildfolgen noch erhöht wird. Beurteilungsskalen … sind sowohl als quantitative Einschätzungen als auch als Interventionen von Nutzen. Eine verständliche Beschreibung der aktuellen Symptome des Säuglings ist ebenfalls Bestandteil der Interaktionsbeurteilung, da man Funktionsstörungen (wie zum Beispiel Schlaflosigkeit und Magersucht) als Mitteilung innerer Zustände betrachten kann (S. 200–201).
Emde, ein Schüler von René Spitz, fest verwurzelt in der medizinisch-biologischen und psychoanalytischen Tradition, scheint durch diesen Trend in der Medizin, modernste Technologie optimal für Forschungszwecke einzusetzen, nicht merklich beunruhigt zu sein. Nein, für Emde (1990, S. 908–909) ist es klar, dass sich die Psychoanalyse wie jede Wissenschaft laufend inhaltlich verändert, ohne dabei ihre Identität als Psychoanalyse zu verlieren. Übrigens schliesst sich Stern (1985) hier Emde an. Der letzte Satz in seinem Buch Die Lebenserfahrung des Säuglings lautet: «Wie die Säuglinge sich entwickeln müssen, so auch unsere Theorien darüber, was sie erleben und wer sie sind» (S. 384).
Es überrascht uns heute sicher, wenn wir erfahren, wie viele Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker diesen Standpunkt vertreten und ihre Forschungen danach ausrichten (siehe z.B. Robert N. Emde, 1983; Robert N. Emde und Helen K. Buchsbaum, 1989; Joseph Lichtenberg, 1983; E. James Anthony, 1986; John Bowlby, 1988; 1989; Scott Dowling, 1990; Scott Dowling und Arnold Rothstein, 1989; Stanley I. Greenspan und George H. Pollock, 1989; Martin Leichtman, 1990; Zenos M. Linnell, 1990; Wendy Olesker, 1990; Martin S. Willick, 1990; Norman Elrod, 1991; 1992).
VI.
In der psychoanalytisch geprägten Psychotherapie der Schizophrenie sehe ich ganz besonders Christian Müller hinter dieser Position stehen. Müller war in den 50er Jahren, als man mit dieser Form der Psychotherapie im Burghölzli begann, mit Leib und Seele dabei. In einer Schrift aus den 70er Jahren, also etwa 25 Jahre später, schildert Müller rückblickend diese Anfangszeit. Damals sah sich Müller, so schreibt er, als eine Art Glaubensritter, der mit Gleichgesinnten auszog, den Kampf gegen die Krankheit Schizophrenie aufzunehmen. Er meinte:
Jeder Schizophrene ist einer individuellen psychotherapeutischen Behandlung zugänglich, alle Symptome sind im Prinzip psychologisch verstehbar und damit auch reversibel. Es darf keine autistische Versandung geben, wir müssen sie verhindern, und wir können es dank einer hingebungsvollen, opferbereiten Partnerschaft mit dem Kranken, dank unserem Wissen um die Hintergründe seines Andersseins (Christian Müller, 1976, S. 289).
Der Müller der 70er Jahre, ja auch der der 90er Jahre, geht an das Problem Schizophrenie in verschiedener Hinsicht anders heran. Aber nach wie vor ist er um die Kranken besorgt. Er glaubt weiter an eine Zukunft, in der Termini wie «schizophrener Endzustand», «ausgebrannt», «versandet» und «verblödet» endgültig verschwunden sind (S. 297) und fordert als Psychoanalytiker, tatkräftig Therapieformen zu entwickeln, «welche dem Schizophrenen erlauben, nicht nur physisch zu überleben, sondern neue Existenzweisen zu finden» (S. 297).
So wie ich Müller verstehe, meint er nicht – mit Fromm-Reichmann (1948) gesprochen –, dass die Genesung des schizophrenen Patienten «in der Umwandlung der schon vor der Krankheit bestehenden Persönlichkeit in eine andere Art von Persönlichkeit besteht.» «Neue Existenzweisen» heisst für Müller vermutlich – und hier orientiere ich mich wiederum an Fromm-Reichmann: «das Ziel der Behandlung [sollte] im Sinne der Bedürfnisse der schizoiden Persönlichkeit und nicht der nicht-schizoiden Persönlichkeit verstanden [werden] … auch nicht im Sinne des nicht-schizophrenen, konformistischen ‹guten Staatsbürgers›, des Psychiaters» (S. 206–207). Mit anderen Worten, die neue Existenzform sollte das widerspiegeln und bewahren, was vor der Behandlung als das Wesen des Patienten angesehen wurde. In Fromm-Reichmanns eigenen Worten:
Der Therapeut sollte wissen, dass seine Rolle bei der Behandlung zu Ende ist, wenn diese Menschen imstande sind, selbst – ohne Verletzung ihrer Mitmenschen – ihre eigenen Quellen der Befriedigung und Sicherheit zu finden, unabhängig von der Zustimmung ihrer Nachbarn, ihrer Familie oder der öffentlichen Meinung (S. 206).
Ich meine, ähnlich haben sich alle Vertreterinnen und Vertreter der Psychoanalyse, von denen heute die Rede war, geäussert. Wir sind wieder beim Bild von Milch und Honig. Das Säuglingsalter überleben die meisten von uns, die Milch reicht aus. Ob wir aber in dieser Zeit Honig bekommen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, hängt oft von komplizierten Vorgängen ab, die mit grosser Ambivalenz verbunden sein können. Dass der Säugling ausreichend Milch und Honig erhält, ist also, mindestens für viele in der Psychoanalyse Tätige, überhaupt keine Selbstverständlichkeit.
VII.
Wie ich es bereits 1970 am Internationalen Kongress für Psychotherapie in Mailand sah und wie ich es auch heute, 1992, hier in Livorno sehe, war und ist die Demokratische Psychiatrie ein kollektiver Versuch, so vielen seelisch gestörten und seelisch und sozial störenden Menschen wie möglich Milch und Honig zu geben. Um dieses gemeinsame Unternehmen in Gang zu bringen, war eine Reihe von Prämissen und Hypothesen nötig, die, wenn auch im engen Sinne wissenschaftlich nicht haltbar, für die Vorkämpfer der Demokratischen Psychiatrie einen Sinn ergaben und immer wieder durch die Patienten, die hinter den Mauern psychiatrischer Institutionen lebten, bestätigt zu werden schienen.
Ich bin hier versucht, eine Parallele zu ziehen zwischen dem, was die Demokratische Psychiatrie unter der Führung Franco Basaglias erreichte und dem, was Josua gemäss der Heiligen Schrift, Josua, Kap. 6, in Jericho vollbrachte. Beide Männer handelten mit der Kraft des Glaubens, beide hatten Mitarbeiter zur Seite, die für die Aufgabe gebraucht wurden, beide waren darauf angewiesen, dass die Heimatlosen ihnen halfen und beide hatten Erfolg. «Durch den Glauben fielen die Mauern Jerichos» (Hebräer, Kap. 11, Vers 30). In beiden Fällen «[erstieg] das Volk … die Stadt», nachdem die Mauern gefallen waren (Josua, Kap. 6, Vers 20).
Natürlich ist das, was die Menschen unter Josua in Jericho taten, nachdem die Mauern gefallen waren, in keiner Weise vergleichbar mit dem, was in Italien nach dem Niederreissen der Mauern der psychiatrischen Anstalt stattfand. Mein Punkt ist die Macht des Glaubens, im Fall von Franco Basaglia und seinen Mitarbeitern der Glaube, dass der psychiatrisch sanktionierte Ausschluss der psychisch Gestörten und psychisch und sozial Störenden aus der Gemeinschaft für sie als Menschen entwürdigend war und ist, und dass diese Personen innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft, und nicht hinter Mauern ausserhalb des alltäglichen Lebens existieren sollten.
VIII.
Wir wissen, dass dieser Wunsch in verschiedenen Regionen Italiens, in denen die Demokratische Psychiatrie praktiziert wird, zur historischen Wirklichkeit wurde. Aber er wurde auch historische Wirklichkeit in anderen Teilen der Welt, in denen die Demokratische Psychiatrie keine Kraft war, mit der man sich auseinanderzusetzen hatte. Tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass ein guter Teil von dem, was die Demokratische Psychiatrie anstrebt, seit den 60er Jahren von Gruppen in der Psychiatrie realisiert wurde, die nicht im Geringsten hinter der Bewegung der Demokratischen Psychiatrie stehen. Es wurde in gewissem Sinn normal, das zu fordern, wofür die Demokratische Psychiatrie kämpfte, z.B. die Gemeinde als ein umfassendes, hochkomplexes System zu sehen. Heutzutage sind vielleicht einzelne Personen als Teile dieses Ganzen nicht glücklich in ihren Wohngruppen, die von der Stadt, dem Staat oder einem privaten Verein finanziert werden, aber sie sind weder ausgeschlossene noch geächtete Mitglieder der Gemeinde, d.h. sie nehmen an der Normalität der Mehrheit teil.
Aber ist dies alles, was die Demokratische Psychiatrie war und ist? Ist die einfache Teilnahme an den normalen Aktivitäten der Gesellschaft als Heilung von der Einseitigkeit des Wahns zu betrachten? Der wahnsinnige Mensch erschien Mitarbeitern der Demokratischen Psychiatrie häufig als ein Wahrheitssucher, der im Grunde in einem Meer von Zweifeln schwimmt. Sie fühlten und fühlen noch heute, wie ich hoffe, dass dieses Besorgtsein um die Wahrheit einer bestimmten Sache und die Hoffnung, die mit dem Zweifel verbunden sein kann, nicht im therapeutischen Prozess oder bei der Rehabilitation verlorengehen dürfen – sagte doch Cartesius: «Zweifel ist der Weisheit Anfang.»
IX.
Ja, die gängigen Konzeptionen der Normalität sollten wirklich hinterfragt werden (siehe dazu Arno Gruen, 1987; Wilhelm Kütemeyer, 1951; 1953; Martti Siirala, 1961). Aber um dies auf einer soliden Basis tun zu können, müssen wir wissen, was heute von Experten auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie als normal angesehen wird. Und hier tritt wiederum die Säuglingspsychiatrie auf den Plan, diesmal besonders relevant wegen der neuen Herausforderungen, denen die Demokratische Psychiatrie in den 90er Jahren begegnet.
Die Demokratische Psychiatrie kann ebenso wenig wie die Psychotherapie der Schizophrenie von gutem Glauben und humanistischem Gedankengut allein leben und sich entwickeln. Beide müssen danach streben, ihre therapeutische und pädagogische Arbeit durch wissenschaftliche Kenntnisse und diszipliniertes Denken zu untermauern. Da es das Ziel beider Bewegungen ist, Menschen zu helfen, sie selber zu werden, sind die Mitarbeiter auf beiden Gebieten verpflichtet, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen, was Werden ist. Das Werden im menschlichen Leben steht aber besonders dort im Vordergrund, wo sich Frauen und Männer, absichtlich oder unabsichtlich an der Zeugung, Geburt und Pflege eines Kindes beteiligen. Was sich in den Köpfen der beteiligten Personen abspielt, ist zentrales Thema für die Säuglingspsychiatrie, und viele damit zusammenhängende Fragen haben in den letzten 20 oder 30 Jahren bereits eine sorgfältige Bearbeitung erfahren. Kurz: Die Demokratische Psychiatrie kann nur an Format gewinnen, wenn sie rezipiert, was weltweit in der Säuglingspsychiatrie geschah und geschieht.
X.
Gleichzeitig hat die Demokratische Psychiatrie auch der Säuglingspsychiatrie etwas zu bieten. Sie begann in den 60er Jahren, die Erwachsenenpsychiatrie fruchtbar zu politisieren, und sollte in den 90er Jahren in der Lage sein, die Säuglingspsychiatrie fruchtbar zu politisieren. Denn mit Sicherheit ist in der Säuglingspsychiatrie die Tendenz stark verbreitet, menschliche Entwicklung so zu beschreiben, als existierten grundsätzlich keine wirklich scharfen Gegensätze in unserem Leben. Daniel Sterns Konzeption der zwischenmenschlichen Welt der Kleinkinder verschleiert vielleicht eine neue, sehr subtile Form der Selbstbezogenheit, die, wenn dies zutrifft, ernsthaft in aller Offenheit diskutiert werden sollte. Ein deutlicher Schritt in diese Richtung ist die Abhandlung von Giovanni Bilancia und Giovanni Polletta (1979), die in der Nummer 56 der Fogli di Informazione erschienen ist. Auch der Vortrag auf unserer Tagung von Sandra Rogialli und Maria Pia Teodori (1992) will unser Augenmerk auf gewisse gesellschaftliche Probleme der Kinder und ihrer Eltern lenken.
XI.
Meine Aussage ist wirklich kurz und einfach: Die psychoanalytische Psychotherapie der Schizophrenie ist heute, mindestens soweit ich mich damit befasst habe, undenkbar ohne dass sich die Therapeuten gründlich mit der Säuglingspsychiatrie beschäftigen. Die Demokratische Psychiatrie, die ebenfalls die Menschen, denen sie in den verschiedenen Bereichen ihrer Tätigkeit begegnet, in ihrer Entwicklung fördern möchte, braucht gleichermassen die Hilfe der Säuglingspsychiatrie. Umgekehrt kann die Demokratische Psychiatrie zusammen mit bestimmten Formen der Psychoanalyse der Säuglingspsychiatrie die Fähigkeit vermitteln, verschiedene Arten der Normalität und Gesundheit zu durchschauen, die fragwürdig, wenn nicht sogar schädlich für die Personen sind, die daran glauben. Die Sorge um die Kinder braucht den Geist der Demokratischen Psychiatrie. Aber schauen wir, dass wir niemals das Kind mit dem Bade ausschütten!
Quellen
Anthony, E. James (1986), The Contributions of Child Psychoanalysis to Psychoanalysis. In: The Psychoanalytic Study of the Child, Volume 41, S. 61–87.
Basaglia, Franco (1953), Il mondo dell’incomprensibile» schizofrenico attraverso la Daseinsanalyse. Presentazione di un caso clinico. Scritti I, 1953–1968. Dalla psichiatria fenomenologica all’esperienza di Gorizia, herausgegeben von Franca Ongaro Basaglia. Turin: Giulio Einaudi, 1981, S. 3–31.
________(1954a), Su alcuni aspetti della moderna psicoterapia: analisi fenomenologica dell’incontro». Ebd., S. 32–54.
________(1954b), Contributo allo studio psicopatologico e clinico degli stati ossessivi. Ebd., S. 55–103.
________(1955), In tema di «pensiero dereistico». Considerazioni sul concetto di «distacco dalla realtà». Ebd., S. 112–136.
________(1956a), Il corpo nell’ipocondria e nella depersonalizzazione. La struttura psicopatologica dell’ipocondria. Ebd., S. 137–164.
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